Artifizielle Störungen – Zwischen Täuschung und Selbstschädigung Konsiliarpsychiatrische Erfahrungen an einem Universitätsklinikum

Zusammenfassung

Während eines 18-Jahres-Zeitraums wurden im psychiatrischen Konsiliardienst eines Universitätsklinikums 93 Patienten (w=76, m=17) mit einer artifiziellen Störung identifiziert (Inzidenz: 0,62%). 50% der Frauen waren in medizinischen/pflegerischen Berufen tätig gegenüber nur 6% der Männer. Es handelte sich mehrheitlich um chronische Krankheitsverläufe, wobei aber bei ca. einem Viertel der Patientinnen ein intermittierender Verlaufstypus vorlag. In 11% imponierte ein klassisches „Münchhausen-Syndrom”. An psychiatrischer Komorbidität bestand bei 10% bzw. 4% der Frauen eine depressive bzw. eine Angststörung. In je ca. der Hälfte der weiblichen und männlichen Patienten wurden eine relevante Sexualstörung sowie ein Suchtproblem berichtet. Bei ca. einem Viertel der Patienten bestand neben der artifiziellen Störung auch eine genuine somatische Krankheit; ca. ein Drittel der Frauen zeigten zudem eine psychosomatische Krankheit, speziell Eßstörungen. In der Krankheitsanamnese fiel der hohe Prozentsatz von früheren somatoformen Störungen, offenen Selbstbeschädigungen und Suizidversuchen auf. Eine traumatisierende frühe Biographie mit emotional depravierenden Heimaufenthalten, hoch konflikthaftem häuslichem Milieu, körperlichem und sexuellem Mißbrauch, frühen Objektverlusten, prägenden Krankheitserfahrungen war häufig. Eine vielschichtige aktuelle Auslösesituation konnte für eine Mehrzahl der Patienten eruiert werden. Eine Diskussion der Ergebnisse erfolgt hinsichtlich Epidemiologie, klinischer Phänomenologie und Entwicklung der artifiziellen Störungen, Psychodynamik und Psychopathologie von Täuschung und Selbstschädigung sowie konsiliarpsychiatrischen Interventionsmöglichkeiten.

Summary

During a 18-year-period 93 patients (f=76, m=17) with a factitious disorder were identified in the psychiatric consultation service of a university hospital (incidence: 0.62%). 50% of women were working in medical professions whereas only 6% of men. Chronic courses of illness were prevailing, but at least one quarter of female patients showed an intermittent type. There was a classical Munchhausen syndrome in 11% of patients. Depressive and anxiety disorders (10%, 4%) were to be respected as psychiatric comorbidity. Ca 25% of the patients suffered from a somatic illness in addition to the factitious disorder, and one third of the women had symptoms of psychosomatic, especially of eating disorders. Previous somatoform disorders, deliberate self harm and attempts of suicide were to be noted in the psychiatric history of many patients. There were frequent traumatizing events (foster home, disturbing family disharmony, physical and sexual abuse, early losses, serious illnesses) in the early biography. Various psychosocial stressors could be identified in the actual eliciting situation. The results are discussed in respect of epidemiology, development and clinical phenomenology of factitious disorders, psychodynamics and psychopathology of deception and self harm, and therapeutic options in the psychiatric consultation service.