Aufgrund zunehmender grenzüberschreitender Migrationsbewegungen kam es Anfang der 1990er Jahre in Deutschland und anderen europäischen Ländern zu einem starken Anstieg forensischer Altersschätzungen bei lebenden Personen [2, 10]. Die zu untersuchenden Personen waren Ausländer ohne gültige Ausweispapiere, deren Alter in Straf-, Zivil-, Asyl- und Rentenverfahren von juristischer Bedeutung war. Die juristisch relevanten Altersgrenzen betreffen in Deutschland das 14., 16., 18., 21. und 65. Lebensjahr [8].

Der erste überregionale Gedankenaustausch zu Fragen der forensischen Altersdiagnostik fand 1999 anlässlich des „X. Lübecker Gesprächs deutscher Rechtsmediziner“ statt. Auf dieser Tagung wurde angeregt, eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe zur Optimierung der Gutachtenpraxis zu gründen, um das bis dahin recht unterschiedliche Vorgehen bei forensischen Altersschätzungen durch die Erarbeitung von Empfehlungen zu harmonisieren. Am 10.03.2000 fand in Berlin die konstituierende Sitzung der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik (AGFAD) der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin (DGRM) statt. Neben der Entwicklung von Empfehlungen für die Gutachtenerstattung waren die Organisation von Ringversuchen zur Qualitätssicherung der Gutachten sowie die Ausrichtung von Tagungen, die ein Forum für einen breiten wissenschaftlichen Erfahrungsaustausch zu allen Fragen der forensischen Altersdiagnostik bieten, weitere Ziele der AGFAD [4].

Zwischenzeitlich wurden von der AGFAD Empfehlungen für die Altersdiagnostik bei lebenden Personen in Strafverfahren [13, 14], außerhalb von Strafverfahren [7] und in Rentenverfahren [11] sowie für die Alters- und Geschlechtsdiagnose bei Skeletten [12] publiziert.

Die forensische Altersdiagnostik hat sich als ein Forschungsschwerpunkt innerhalb der forensischen Wissenschaften etabliert.

Erste Monographien zur Thematik liegen vor [1, 9].

Diese Entwicklung war der Anlass, ein Schwerpunktheft der Zeitschrift Rechtsmedizin zur forensischen Altersdiagnostik bei lebenden Personen zu planen. Wir danken den Autoren der Schwerpunktbeiträge sehr herzlich für ihre Bereitschaft zur Mitarbeit sowie für die fristgerechte Fertigstellung und die außerordentlich hohe Qualität der eingereichten Manuskripte. Zahl und Umfang der Beiträge sprengen den Rahmen eines Heftes. Daher erscheinen zwei Hefte zum Themenschwerpunkt „Forensische Altersdiagnostik“.

Die Beiträge des vorliegenden ersten Heftes behandeln methodische Aspekte der forensischen Altersdiagnostik bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Entsprechend den aktualisierten AGFAD-Empfehlungen sollten für eine Altersschätzung im Strafverfahren eine körperliche Untersuchung, eine Röntgenuntersuchung der Hand sowie eine zahnärztliche Untersuchung mit Erhebung des Zahnstatus und Auswertung eines Orthopantomogramms kombiniert werden. Bei abgeschlossener Handskelettentwicklung sollte eine zusätzliche radiologische Untersuchung der Schlüsselbeine erfolgen [14].

Schmidt et al. [15] geben eine Übersicht über die zur Verfügung stehenden Methoden der Skelettaltersbestimmung. Hauptkriterium der zahnärztlichen Altersdiagnostik ist die Bestimmung des Weisheitszahnmineralisationsstadiums. In den publizierten Referenzstudien fallen stark differierende Mittelwerte der Weisheitszahnmineralisationsstadien auf, selbst wenn die gleiche Population untersucht wurde. Die Ursachen dieser Differenzen werden in dem Beitrag von Gelbrich et al. [3] erläutert. Knell u. Schmeling [6] gehen der Frage nach, ob durch den Nachweis retinierter Weisheitszähne mit abgeschlossener Mineralisation die Vollendung des juristisch bedeutsamen 18. Lebensjahrs bewiesen werden kann. Der Nachweis der Vollendung des für die Anwendbarkeit des Erwachsenenstrafrechts entscheidenden 21. Lebensjahrs gelingt in der Regel bisher nur durch die radiologische Untersuchung der medialen Klavikulaepiphysenfuge. Vieth et al. [16] zeigen, dass Projektionsradiographie, Computertomographie und Magnetresonanztomographie zu unterschiedlichen Stadienbestimmungen bei derselben Schlüsselbeinepiphysenfuge führen können und empfehlen daher für die Altersschätzungspraxis die Verwendung modalitätenspezifischer Referenzstudien. Der Einsatz nichtionisierender bildgebender Verfahren für die Skelettaltersbestimmung kann die Aussagesicherheit von Altersschätzungen, bei denen die Anwendung von Röntgenstrahlen nicht juristisch legitimiert ist, signifikant erhöhen. Jopp et al. [5] stellen eine MRT-Studie zur Bestimmung des Ossifikationsstadiums der proximalen Tibiaepiphyse vor und diskutieren potenzielle Einsatzmöglichkeiten zum Nachweis der Vollendung des 16. Lebensjahrs.

Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik finden international starke Beachtung

Die Beiträge und Empfehlungen der AGFAD zur forensischen Altersdiagnostik finden auch international starke Beachtung und werden sehr häufig zitiert. In praktisch allen Rechtssystemen auf der ganzen Welt spielt die zutreffende Einordnung des Lebensalters eines Menschen eine erhebliche Rolle und ist unverzichtbar im Hinblick auf zahlreiche behördliche und gesetzliche Entscheidungen. Insofern ist schwer verständlich, dass der Deutsche Ärztetag die nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft durchgeführten ärztlichen Maßnahmen zur forensischen Altersdiagnostik wiederholt infrage gestellt hat. Die Delegaten lassen dabei gesetzliche Regelungen außer Acht und versuchen die von Exekutive und Judikative des Staates in Anwendung und Auslegung der Gesetze beauftragten medizinischen Sachverständigen in ethischer Hinsicht zu diskreditieren [8]; damit werden die Gutachter, die entsprechende Verantwortung übernehmen, grundlos einer verletzenden Kritik ausgesetzt.

Mit den wissenschaftlichen Beiträgen unseres Schwerpunktthemas würden wir gern zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen.

Andreas Schmeling

Klaus Püschel