Zusammenfassung
Oswald Bumke ist eine zentrale Figur der deutschen Psychiatrie des 20. Jahrhunderts, denn als einer ihrer auffälligsten Repräsentanten prägte er das Fach unmittelbar mit. Seine Leipziger Jahre 1921–1924 und die anschließenden Münchener bis Mitte der 1930er machen ihn bis heute bekannt, weil während dieser zweiten Hauptschaffensphase seine fachenzyklopädischen Hand- und Lehrbücher entstanden. Werk- und ideengeschichtlich erweisen sich erstere als besonders aufschlussreich, äußerte sich Bumke Anfang der 1920er-Jahre doch grundsätzlich zu den brennenden Zeitfragen. Exemplarisch verortet die Studie Bumke anhand zweier zentraler Debatten, deren Fortgang er zu beeinflussen suchte. Er entwarf einerseits eine eigene, philosophische Psychologie unter Ablehnung der Experimentalpsychologie von Emil Kraepelin und durch Zurückweisung der Libidotheorie und des eigendynamischen Unbewussten gelang es ihm, zur Abschwächung der Einwirkung der Psychoanalyse und Sigmund Freuds auf die deutsche Schulpsychiatrie beizutragen. Andererseits trat er gegen die vorherrschende Degenerationslehre mit ihrer Entartungstheorie und deren Hauptvertreter Ernst Rüdin auf. Hier vermochte er es aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen jedoch nicht, die Kollegenschaft an sich zu binden.
Summary
Oswald Bumke is a central figure in twentieth-century German psychiatry, having had a considerable influence on its development as one of its best-known representatives. His time in Leipzig from 1921 to 1924 and subsequently in Munich up to the mid-1930s saw the second major phase in his scientific work, during which he laid the basis for the renown he still enjoys as a result of his specialist encyclopaedic textbooks and manuals summarising the current knowledge of his time. At the beginning of the 1920s he made his stand on the burning issues of the day and thus influenced the conceptional history of the subject. For instance, he proposed his own philosophical psychology, rejecting the experimental psychological approach of Emil Kraepelin. By challenging the libido theory and the dynamic unconscious he weakened the impact of Sigmund Freud and psychoanalysis on German scientific psychiatry. Moreover, Bumke strongly opposed the prevailing concept of degeneration and its main protagonist Ernst Rüdin. Owing to the political and social developments at the time, however, he was not able to raise much support among his colleagues.
Notes
Das Lehrbuch von 1924 stellt die 2. Auflage seiner Schrift „Die Diagnose der Geistskrankheiten“ (1919) dar. Erinnert sei ferner nur an Bumkes elfbändiges „Handbuch der Geisteskrankheiten“, dessen Hauptteile zwischen 1928 und 1932 erschienen, und das 1935–1937 zusammen mit seinem Breslauer Freund und Kollegen Otfrid Foerster herausgegebene 17-bändige „Handbuch der Neurologie“.
Mehrfach dem Autor gegenüber geäußerter persönlicher Eindruck des Kieler Psychiatrieprofessors Gustav-Ernst Störring, der Bumke persönlich kannte.
Zumindest in den Rüdin betreffenden Beständen des Historischen Archivs des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München befinden sich derartige Schriftstücke nicht. Für diese Information dankt der Autor Herrn Prof. Dr. M.M. Weber und Herrn Dr. W. Burgmair.
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Steinberg, H. Oswald Bumke in Leipzig. Nervenarzt 79, 348–356 (2008). https://doi.org/10.1007/s00115-007-2356-3
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